Kalt, lodernd, schmerzhaft: Auf einer Winterreise mit Charly Hübner und Ensemble Resonanz
Vorab ein, zwei Bemerkungen in eigener Sache: Ich bin, was die Kultur angeht, ein einfaches Gemüt. Ich habe keine Schwäche für klassische Musik, ich verstehe nicht gar so viel von Musik. Legt mir einen guten Popsong vor, der drei Akkorde und einen Refrain hat, der ins Ohr geht, und ich bin zufrieden. Nicht umsonst war ich 30 Jahre Roxette-Fan, wobei das auch andere Gründe hatte, jedenfalls am Ende, als mir die Musik irgendwann doch zu profan wurde. Ich gehe gern ins Theater, bin aber kein Freund der Oper. Ich mag gute Geschichten, die aus sich heraus getrieben und getragen werden von Charakteren, die sich entweder entwickeln dürfen oder wie von Geisterhand selbst entwickeln. Unabhängig davon hat dieser Text auf dieser Blogseite, die wir für Film und Fernsehen angelegt haben, nichts zu suchen. Vielleicht reicht als Grund, dass Charly Hübner meistens eher Schauspieler, Autor, Regisseur ist.
Wieso als besucht ein Mensch wie ich, mit derart wenig Verständnis für die hohe Kunst klassischer Musik, Lyrik und künstlerisch hochwertigen Ausarbeitungen von Arrangements also das Konzert “mercy seat – Winterreise” von Ensemble Resonanz und Charly Hübner in Hamburg? Vorab zum Inhalt: Ensemble Resonanz und Charly Hübner haben gemeinsam mit dem Komponisten Tobias Schwencke das Projekt ausgearbeitet. Nick Cave trifft Franz Schubert. In der Pressemitteilung heißt es: “Die Geschichte eines Mannes, der sich kurz vor seiner Hinrichtung jeder Eindeutigkeit von Gut und Böse entzieht. Zusammen mit dem lyrischen Ich
Wilhelm Müllers, dessen Gedichte Schubert in der Winterreise vertonte, formt Hübner eine neue Erzählung. Charly Hübner findet einen eigenen, sehr direkten und fast ungeschliffenen Zugang zum Liedgut Schuberts und den Songs von Cave. In seiner Interpretation rückt er die Texte in den Fokus, deren Eindringlichkeit und Verzweiflung er flüsternd, flehend und fluchend verstärkt. Für die Umsetzung werden Charly Hübner und das Ensemble Resonanz von drei ausgezeichneten
Jazzmusikern ergänzt: Dem finnischen Gitarrenvirtuosen Kalle Kalima, dem portugiesischen Kontrabassisten Carlos Bica und dem deutschen Schlagzeuger Max Andrzejewski. Abgerundet werden die Bearbeitungen von Schubert und Cave mit Auszügen aus dem Roman “Das fahle Pferd” von Boris Sawinkow und dem Adagietto aus Gustav Mahlers 5. Sinfonie.
Das klingt für jemanden, der mit Roxette auf- und definitiv nicht in allen musikalischen Bereichen dort rausgewachsen ist (habe immer noch ein Herz für gute Popmusik und Look Sharp! wird niemals alt oder schlecht), erst einmal nach schwerer Kost. Wobei ich natürlich eine Schwäche für Nick Cave habe. Wer nicht? Dazu muss ich sagen, dass dies mein allererster Konzert-Besuch dieses Jahr war. Ich hatte eigentlich Karten für verschiedenste Konzerte in den unterschiedlichsten Städten (beispielsweise Elton John), die natürlich alle verschoben wurden. Dass mir die Konzertbesuche fehlten, wusste ich schon seit einigen Wochen, aber nun, da ich in Hamburg im Konzertsaal saß und es wieder erleben durfte, merkte ich, wie krass sie mir wirklich abgehen. Es waren ja nicht immer nur Roxette-Tourneen, die ich begleitet habe, sondern auch viele viele andere Konzerte, die ich in den letzten Jahrzehnten besucht habe.
Ich habe also, mit meinem Nicht-Hintergrund an Nicht-Kultur, faktisch keine Ahnung von dem, was ich da jetzt rezensiere. Ich möchte noch anfügen, dass ich Streicher, Streichquartette und Streichorchester sehr liebe. Als ich 2009 irgendwas an die 20 Mal dem unfassbar großen Streichorchester der Night of the Proms (ja gut, waren auch Bläser dabei) dabei zuhören durfte, wie es Roxette-Songs in Szene setzte, war es um mich geschehen.
Nun aber zur Winterreise: Charly Hübner beginnt das Konzert mit einer Bearbeitung des Nick-Cave-Songs “The mercy seat”, sinngemäß sind es die ersten Zeilen des Liedes, die, nun auf Deutsch, den Abend eröffnen: “It began when they come took me from my home And put me in Dead Row, Of which I am nearly wholly innocent, you know, And I’ll say it again, I am not afraid to die.” Im dunklen Anzug, mit braunen Schuhen und entschlossenem Blick steht er am Mikrofon. Und was mir schon nach nicht einmal drei Minuten auffällt: Es geht heute mitnichten nur um Ton und Gesang. Hier ist ein Gesamtpaket aus Musik, Gesang und Schauspiel am Werk. Jede Faser seines Gesichts verrät, mit welcher Emotion wir gerade umgehen. Wut, Enttäuschung, Zorn, Trauer, Entschlossenheit, Mutlosigkeit. Alles ist seinem Gesicht im jeweiligen Moment abzulesen. Der ganze Körper arbeitet, und der Mund ist nur die letzte Station einer Kette von Aktionen und Reaktionen, die durch seinen Körper läuft und eben im Gesicht seinen Ausgang findet. Ich bin mir nicht sicher, ob ich so etwas überhaupt schon mal gesehen habe im Theater oder bei einem Konzert. Ensemble Resonanz hat mich bereits nach wenigen Minuten mit seinen Klängen komplett gefangen genommen. Sobald mehr als fünf Streicher am Werk sind, versetzt ihre Musik meine Seele schon ins Schwingen. Ich vergesse Zeit und Raum. Und Charly Hübner schafft es, die Zuschauer fast buchstäblich mitzunehmen auf diese Winterreise. Zwischendurch wird es kalt, innerlich, dann lodert kurz eine Flamme auf, dann frieren wir wieder. Exakt, wie sich der Protagonist in dieser Ausarbeitung der Winterreise fühlen muss.
Es ist natürlich ein wenig befremdlich, dass wir nicht in einer vollen Halle sitzen. Viele Plätze sind wegen der Corona-Pandemie gesperrt, die Reihen deshalb nur spärlich gefüllt. Allerdings tut es diesem Emotions-Gebilde, das sich in der nächsten Stunde von der Bühne erhebt und durch den Saal schwebt, auch überhaupt keinen Abbruch. Und mir geht das Herz allein dabei auf, endlich wieder Live-Musik zu hören.
Was vorgetragen so wirkt, als sei es inhaltlich zusammenhanglos, ist es ganz und gar nicht. Wir sind mit einem Mann auf einer Reise, der den Schmerz kennengelernt hat, der ihn begriffen hat, der ihn gerne unter der Bedingung los wäre, dass ein Teil von ihm bliebe, weil er ihm gleichzeitig auch Schutz ist. Schutz vor der Welt da draußen, die Welt, die ihm Böses tat. In jedem gesprochenen oder gesungenen Wort, ist dieser Schmerz zu spüren. Und ich möchte sogar ergänzen: Man hört ihn auch in jedem Ton. Es sind manchmal nur Nuancen, ein Hintergrundgeräusch, eine leise Geige, aber stets begleitet von diesem Gefühl, dass irgendetwas nicht im Einklang ist bei unserem Protagonisten. Es schmerzt, zuzuhören. Und so sind wir wieder mittendrin.
Ich habe in meinem Leben übrigens bei Konzerten (insgesamt dürften es vielleicht 350 sein, davon gut 80 Roxette und related) genau dreimal geweint: zweimal bei Marie Fredriksson (Stjärnklart-Gala, 2008, das erste Konzert der Lieblingssängerin nach überstandener Krankheit vergisst man nie; und Halmstad 2010 bei “Dangerous”, tja) und einmal bei Adele 2016, weil die Stimme mir so durch Mark und Bein und irgendein Schalter anging. Ensemble Resonanz schaffte es nun ein viertes Mal, und ich füge diesen Abend gerne der Liste hinzu. Die ersten 20 Sekunden von “Where the wild roses grow” haben genau diesen Schalter erwischt. Das können nur Streicher in dieser Intensität. Gänsehaut pur. Als Charly Hübner dann mit dem Gesang einsetzte, trug sich dieses Gefühl noch etwas fort, verlor sich aber irgendwie in einem Dickicht aus zu vielen Geräuschen. Vielleicht war mir der Rest des Liedes einen Tick zu laut, zu intensiv. Ansonsten ist ein unfassbar großartiges drum solo zu erwähnen. Wenn Drummer wissen, wie sie mit ihren Instrumenten umgehen müssen, ist das sehr viel wert. Es sah jedenfalls anstrengend aus, es klang aber unglaublich leichthändig.
Nach knapp 70 Minuten endete des Konzert, wie es begann: mit “The mercy seat” von Nick Cave. Die letzte Strophe des Songs lautet
And the mercy seat is-a waiting, And I think my head is burning
And in a way I’m yearning
To be done with all this measuring of proof
Of an eye for an eye
And a tooth for a tooth
And anyway I told the truth
But I’m afraid I told a lie
Ich würde sagen, bis auf die letzte Zeile würde meine hier geschilderten Eindrücke mit diesen Zeilen unterschreiben. Wer die Gelegenheit hat, sich diese Kombination aus Klassik, Lyrik, Punk und den Ideen kreativer Geister anzusehen und auch zu -hören, sollte das unbedingt noch tun. Am 8.10.2020 treten Ensemble Resonanz und Charly Hübner in Viersen auf, am 9.10.2020 in Köln. Es gibt für beide Konzerte noch Tickets. Und mal ehrlich: So langsam seid ihr es auch leid ohne Kultur, Konzerte, Live-Musik und Bühne, oder? Wer sich noch nicht raus traut, und ich kann es verstehen, denn so ganz geheuer war es mir irgendwie auch nicht, dem sei zur Anschaffung der CD geraten. Als MP3-Album gibt es die Musik auch – natürlich bei den gängigen Anbietern.