Polizeiruf 110 aus Rostock: eine Liga für sich
Es wiederholt sich sogar die Wiederholung. Es ist schwer, neue Worte für die herausragende Einzigartigkeit und Großartigkeit des Polizeirufs aus Rostock zu finden. Seit etwa sieben Jahren rezensiere ich die Filme für eine Regionalzeitung und deren Online-Portal. Nicht nur Rostock, sondern auch andere Krimis der Reihe und des Tatorts. So wurde ich Fan. So großer Fan, dass ich über Wochen sehr enttäuscht sein kann, wenn sich kein neuer Rostocker im ARD-Presseraum anbahnt.
Es gab bereits zwei Rostocker Krimis (“Für Janina” und “Dunkler Zwilling”), in denen ich über den erstgenannten schrieb, dass mir für diese Filme eigentlich die Superlative ausgehen. Und über den zweiten schrieb ich, dass die Superlativen ja keine Superlativen haben. “Dunkler Zwilling” war noch besser als “Für Janina”. Und nun gab es also einen bisher im deutschen Fernsehen noch nicht ausgestrahlten Rostocker Polizeiruf 110 namens “Der Tag wird kommen”. Es gibt keine Adjektive mehr für diese Filme, die glaubwürdig beschreiben, dass dieser die beiden vorgenannten noch einmal um Längen toppt. Es ist fraglich, wo Rostock noch hin will. Wo ist das Ende? Gibt es überhaupt eins? Rostock ist eine Liga für sich. Auch deshalb, weil man sich von Anfang an getraut hat, horizontal zu erzählen. Ja, das mag dem gemeinen Fernsehzuschauer schwerfallen, aber Autoren und Regisseure machen es ihm leicht: Es wird in jedem nachfolgenden Krimi kurz umrissen, worum es im letzten ging und wieso das wichtig ist. Man kann folgen, wenn man will. Und wenn man folgen will, wird man mit der besten Krimireihe im deutschen Fernsehen belohnt.
Nun also “Der Tag wird kommen”: Der Film wurde uraufgeführt beim Deutschen Fernsehkrimi-Festival in Wiesbaden, ist dort nominiert. Zurecht. Das Drehbuch hat Florian Oeller geschrieben, inszeniert wurde der Film von Eoin Moore, der auch für die Entwicklung der Charaktere zuständig ist. Worum geht es in dem Film, ohne zu viel von der Handlung und den Folgen vorwegzunehmen? Guido Wachs (Peter Trabner) ist immer noch in der Umlaufbahn. Ja, das war der Mann, den Katrin König (Anneke Kim Sarnau) mittels gefälschter Beweise ins Gefängnis gebracht hat, um ihn für einen anderen Mord zu bestrafen, für den er freigesprochen worden ist. Sascha Bukow (Charly Hübner) weiß davon. Er weiß auch davon, dass Wachs nun aus dem Gefängnis Briefe an König schreibt und ihr damit ihre Schuld auferlegt, eine Bürde, die ihr so zu schaffen macht, dass sie langsam ihren Verstand verliert. Auch Bukow kommt erst einmal nicht mehr an die Kollegin heran. Das ist die horizontale Erzählung, die mit diesem Film endet. Dann gibt es noch einen Mordfall zu lösen. König steht jedoch wegen der Einnahme dubioser Tabletten komplett neben sich, befindet sich immer gerade in, vor oder nach einer kurzen vermutlich psychotischen Episode. Sarnau spielt diesen Part so überzeugend, so schmerzhaft, so verzweifelt, dass ihr allein für diese Darstellung sämtliche Fernsehpreise ohne weitere Konkurrenz ausgehändigt werden sollten.
Zum Fall: Die ehemalige Spitzenathletin Nadja Flemming wird schwer verletzt am Hafen gefunden. König hatte die Frau vorher beim Joggen gesehen und war eingeschritten, als zwei betrunkene Männer sie belästigt hatten. Diese hatten König jedoch niedergeschlagen. König landet im Krankenhaus, dann wird Flemming eingeliefert. Wenig später verstirbt Flemming.
Und dann gibt es noch Handlung Nummer drei: Veit Bukow (Klaus Manchen) ist zurück und wieder mitten im Geschäft, anscheinend aber auch nicht ganz gesund. Sein Sohn Sascha gerät mit dem alten Herrn zuerst einander, dann jedoch glätten sich die Wogen ein wenig, bevor letztlich alle drei Handlungsstränge ineinander laufen: auf authentische Art und Weise, wie es eine Stärke der Rostocker schon immer war und ist.
“Der Tag wird kommen” besticht durch eine eindrucksvolle Kameraführung, durch Dialoge, die ohne viele Worte funktionieren, durch Nebenstränge, die unterhaltsam, witzig, aber auch dramatisch und intensiv erzählt sind. Anton Pöschel (Andreas Günther) bekommt ebenso endlich wieder mal was zu tun wie Volker Thiesler (Josef Heynert). Und wenn sich Hübner und Sarnau die Bildschirmzeit teilen, geht es ohnehin nicht mehr viel besser. Das Drehbuch ist klar, stringent, lässt keine Fragen offen, treibt die Geschichte voran.
Normalerweise schaue ich die Filme vorab im Presseraum der ARD. Und wenn die Spannung kurz vor Ende am größten ist, stoppe ich kurz und schaue, wie viel Restlaufzeit noch übrig ist. So kann ich einschätzen, wie viel noch passiert. Am Sonntagabend schaut man regulär einfach auf die Uhr: 21:37 Uhr, aha, Höhepunkt. Doch im Kinosaal der Caligari-Filmbühne in Wiesbaden gab es beide Möglichkeiten nicht. Und so hatte ich mehrfach das Gefühl “jetzt isses aber vorbei, wow”, aber nein, es folgte noch ein Höhepunkt, noch ein Höhepunkt und noch ein Höhepunkt – vor dem überraschenden, aber in diesem Fall lang ersehnten Ende. Während ich schon den ein oder anderen Tatort gesehen habe, bei dem ich dachte, dass die Schauspieler und der Regisseur offenbar noch nicht mitbekommen haben, dass der Film schon vorbei ist, hätte es hier auch noch Stunden ohne eine einzige Sekunde Langeweile weitergehen können.
Bukow und König hätte sich unabhängig von der Polizeiruf-Reihe perfekt als eigenständige Krimi-Reihe etablieren können. Vier Filme im Jahr, nennen wir sie “Der Rostock-Krimi”, und es wäre ein perfektes Konstrukt für ein offensichtlich perfekt eingespieltes Team aus Schauspielern, Autoren, Regisseuren, Entwicklern und Produzenten. Es passt einfach alles. Und in Rostock sollte man sich allein deshalb mit nicht ganz so garen Drehbüchern (wie beispielsweise dem letzten “Söhne Rostocks”) auch nicht zufrieden geben. Rostock verdient nur das Beste, weil es selbst nur das Beste liefert.
Nun bleibt abzuwarten, wohin uns die Segel, die nach “Der Tag wird kommen” in eine andere Richtung gesetzt worden sind, treiben. Spannende, neue Geschichten erwarten uns, vor einem spannenden, neuen Hintergrund – sofern ich die Worte Eoin Moores richtig verstanden habe.