Kein Held für alle: Wie kugelsicher ist Luke Cage?
Alle lieben Luke Cage – und das ist ein Grund zur Freude. Es ist schön, dass sich Qualität durchsetzt und Marvel mit seinen durchaus mutigen (weil relativ düsteren und brutalen) Netflix-Serien genau so punktet wie mit dem restlichen MCU. “Daredevil” stieß die Tür auf, durch die “Jessica Jones” und nun eben “Luke Cage” gehen konnten – nach “Iron Fist” im kommenden Frühjahr steht dann das große Crossover der Straßenhelden an – “The Defenders”.
Der Erfolg von “Luke Cage” bei Fans und Kritikern ist trotz der Vorlage der beiden Vorgängerserien aber auch überraschend. Denn diese Serie ist anders. Sogar ganz anders.
Nachdem wir den kugelsicheren Hünen (Mike Colter) als Kampf- und Bettgenossen von Jessica Jones kennen gelernt haben, zieht es ihn in seiner eigenen Netflix-Reihe fort von Hell’s Kitchen in einen anderen Stadtteil von New York: Harlem. Dort versucht Luke zunächst wie gehabt, Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen. Aber erwartungsgemäß gerät er rasch zwischen die Fronten einer korrupten Polizei, intriganten Lokalpolitikern und den örtlichen Gangstern. Und so wird aus dem einsamen Außenseiter der Held des Ghettos, die letzte Hoffnung für alle, die den Glauben an das Gute längst verloren hatten.
“Luke Cage” orientiert sich sehr an afroamerikanischer Kultur: Treffpunkt für den schweigsamen Riesen und seine Freunde ist ein Barbershop, im Nachtclub des Antagonisten spielen Funk-Bands, und vor allem am Soundtrack merkt man als Zuschauer, wie sehr wir uns daran gewöhnt haben, was Hollywood uns vorsetzt. Statt Rockballaden gibt es sanften Soul, wenn es emotional zugeht, statt Dubstep-Rhythmen hören wir HipHop-Grooves, wenn es knackiger wird. Grundsätzlich ist die ganze Serie eine einzige große Hommage ans Blaxploitation-Kino der 70er: Cage ist der moderne Shaft, ebenso wie sein Vorbild ist er ein Frauenheld, und ebenso wie einst Foxy Brown oder Cleopatra Jones sind diese Frauen knallhart und selbstbewusst. Die stärksten weiblichen Charaktere sind die machthungrige Politikerin “Black Mariah” (Alfre Woodward) auf der einen Seite und die aufrechte Polizistin Misty Knight (Simone Missick) auf der anderen. Comic-Fans ahnen angesichts dieser Namen, dass der literarischen Vorlage liebevoll Tribut gezollt wird – und auch die stammt aus den 70ern.
Also alles ziemlich alte Schule in Harlem? Allerdings. Und nun kommt der große (Kinn-)Haken: Auch Drehbuch und Inszenierung muten an, als sei in den vergangenen 40 Jahren nichts passiert. Das bedeutet, die Geschichte wird relativ langatmig und redselig erzählt. Ohnehin würde es den Netflix-Marvel-Serien ja mitunter nicht schaden, sich vielleicht auf zehn Folgen zu beschränken. Diesmal jedoch wird die Sache vor allem für Bingewatcher regelrecht langweilig – zumal die Story nach der Hälfte kurz Luft holt, um dann im zweiten Teil das gleiche behäbige Tempo vorzulegen. Besonders auffällig ist die ungewohnte Geschwindigkeit bei den ohnehin nicht besonders häufigen Actionszenen: Meist stampft Luke in ein heruntergekommenes Gebäude, lässt sich von den Schergen des Gangsterbosses Cottonmouth (Mahershala Ali) erfolglos beschießen und schubst sie dann ein wenig herum. Oder anders: Wer ähnlich durchchoreografierte Kampfsequenzen wie bei “Daredevil” erwartet, wird definitiv enttäuscht.
Um es klarzustellen: Das ist kein Fehler. Es ist den Produzenten nicht versehentlich passiert, sondern diese detailfreudige Serie soll genau diese Atmosphäre haben, und wer Freude an “The Wire” oder den erwähnten Kultfilmen hat, mag das vermutlich sogar als Stärke sehen. Andere konzentrieren sich auf die offensichtlicheren Pluspunkte wie etwa die gute Besetzung (neben den Genannten sticht Theo Rossi als Killer Shades heraus) oder den Umstand, dass die Story etwas weiter in Richtung “Defenders” gedreht wird und wir mehr über Lukes Hintergründe erfahren.
Die Verbindung zu den anderen Serien erfolgt übrigens wie gewohnt über Krankenschwester Claire Temple (Rosario Dawson) – an einer Stelle nimmt sie sich die Werbung für eine Kampfsportschule mit… Hoffen wir, dass die Abenteuer von “Iron Fist” im März etwas flotter daherkommen. Und freuen wir uns bis dahin über eine ungewöhnliche neue Facette im MCU mit einem immerhin charismatischen Helden.