Die Schönheit der Einsamkeit des Lebens
Was sich nicht nur liest wie eine Aneinanderreihung von Substantiven, sondern sehr klar auch eine ist, fühlt sich im Herzen und im Bauch deutlich adjektivistischer an. Es geht um “Nomadland” mit Frances McDormand. Ich kann kaum glauben, dass ich seit gut einem dreiviertel Jahr darauf warte, den Film legal zu sehen. Legal, das heißt: Ich zahle dafür. Entweder im Kino oder bei einem Streaming-Dienst. Zu meinem Nachteil hat man sich offenbar dazu entschieden, den Film bei keinem der Streaming-Anbieter zum Kauf anzubieten und darauf zu warten, dass die Kino-Saison doch noch mal irgendwann beginnen kann. Dementsprechend war die Wartezeit lang, sehr lang. Nun, nachdem Frances McDormand, der Film und die Regisseurin Chloé Zhao an Preisen schon alles mitgenommen haben, was es so gab, ist es Sommer 2021 es also so weit. “Nomadland” läuft endlich landauf, landab in deutschen Drinnen- und Draußen-Kinos. Und ehrlich gesagt, allein wegen der ganzen Cinematographie, die drinsteckt: Schaut ihn euch an, wenn ihr selbst gerade unterm Sternenhimmel sitzt. Diese Schönheit, diese gewaltige Ursprünglichkeit der Natur, die uns “Nomadland” zeigt, die gilt es, gleichzeitig auch zu spüren. Und das gelingt natürlich draußen viel besser.
Was “Nomadland” sein will? Ein Porträt, ein road movie, eine Dokumentation, ein Drama, eine Liebesgeschichte. Ein bisschen auch eine Komödie. Auf keinen Fall ein Actionfilm. Was “Nomadland” auch nicht sein will: ein Film, der ein klassisches Drehbuch vorlegt, in dem wir verschiedene Spannungsbögen an den immer gleichen Stellen finden, weil man das im Drehbuchstudium mal so gelernt hat. Es gibt wahrlich kein Auf und kein Ab in diesem Film. Und wenn, dann spiegelt es sich nur in Frances McDormands Gesicht. Wer auf spektakuläre Wendungen und hochtrabende Dialoge wartet, der ist hier falsch. Und das liegt daran, dass “Nomadland” den Blick wagt in echtes Leben; und trotzdem irgendwie in der Fiktion verhaftet bleibt. Da ist kein Happyend, da ist aber auch kein trauriges Ende. Denn es endet nicht, und genau genommen beginnt es auch gar nicht. Wir steigen mittendrin ein, wir sind schon in der ersten Szene Teil von Ferns Leben. Fern, die alles verloren hat und jetzt in einem Van lebt und mit diesem von Ort zu Ort zieht, um dort Gelegenheitsjobs anzunehmen. Von außen betrachtet möchte man sagen, dass Fern eine gescheiterte Existenz ist, aber das ist sie allein deshalb nicht, weil sie an das Gute im Menschen glaubt, ihnen mit Urvertrauen begegnet, zwar mit ihren Gedanken in der Vergangenheit festhängt, aber nicht mit ihrem Schicksal hadert. Sie ist gebrochen, bindungsscheu, vielleicht auch ein bisschen naiv, mitunter wirkt sie zerbrechlich und verletzlich, aber sie ist nicht verschlossen oder sprachlos.
Fern hat kein Ziel mehr. Sie lebt nur noch, existiert, aber das zu hundert Prozent. Immer wieder hält sie inne, bestaunt die Wunder der Natur. Farben, Formen, Gerüche. Wir sind dabei, wenn sie das tut und halten ebenfalls inne. Zwischendurch buckelt sie, arbeitet mal hier, mal dort. Wir sehen sie während einer Durchfallattacke, beim Kochen, beim Fahren, beim Weinen, beim Lachen. Ihr Leben ist eine ziellose Reise, weil Fern bereits am Ziel ist.
Als sie noch einmal die Chance auf ein neues Glück, wie es im “Buch der 100 normalen Lebensentwürfe” stehen könnte, zu finden droht, ja, droht, da nimmt sie Reißaus. Nicht nur der Mann ist ihr zu eng, die Aussicht auf eine Beziehung, sondern auch das Haus. Unter einem Dach schlafen, das kann sie nicht mehr lang. Erst sucht sie das Weite, flieht aus dem Bett und nächtigt in ihrem Van, der keine 5000 Dollar mehr wert ist. Dann schlendert sie noch einmal durch das Haus, bevor sie abreist. Und nie wieder zurückkehrt.
Über diesen Film ist natürlich schon längst alles gesagt, aber wenn man, wie ich, erst Monate nach der Erstaufführung die Chance hat, ihn zu sehen, wird auch für mich verständlich, was all die Kritiken und Kritiker uns sagen wollten. Die Meisterwerke entstehen dann, wenn die Autoren und Regisseure und Produzenten ihren Protagonisten Raum geben und Raum lassen. Ganz oft enden Szenen einzig mit einer Nahaufnahme auf Frances McDormands Gesicht. Wir sollen Fern sehen, nicht nur äußerlich.
Einer der schönsten Dialoge ist ein Gespräch mit Swankie, als diese Fern von ihrer Krankheit erzählt. So sagt sie:
Ich werde dieses Jahr 75 und ich glaube, ich hatte ein ganz gutes Leben. Ich habe einige wirklich schöne Dinge gesehen, als wir mit dem Kajak durch das Land gefahren sind. Eine Elch-Familie an einem Fluss in Idaho. Große, weiße Pelikane die nur wenige Meter über meinem Kajak in Colorado auf einem See gelandet sind. Oder… als ich um eine Klippe ging und dort hunderte, hunderte Schwalbennester an der Felswand sah. Und die Schwalben flogen überall herum und warfen Schatten in das Wasser, so dass es so aussah, als würde ich mit den Schwalben fliegen. Und die Schwalbenbabys brachen gerade aus ihrer Schale. Die Schale fiel aus den Nestern und landete direkt auf dem Wasser neben mir. Diese kleinen, weißen Schalen. Und es war einfach so wunderschön. Fern! Da dachte ich, ich habe genug getan. Mein Leben war vollendet. Ich dachte, wenn ich jetzt hier sterbe, dann wäre es in Ordnung. Wie viele Menschen können das sagen?
Wer diese Zeilen sieht und hört und gleichzeitig selbst unter dem Sternenhimmel sitzt, besinnt sich für einen kurzen Moment wieder auf das Wesentliche. Auf die Natur. Swankie, Linda und Fern und Dave lassen uns zurückkehren und teilhaben an ihrem Leben inmitten der Natur. Ein wenig später bekommt Fern ein Video von Swankie geschickt. Sie wollte zurück zu den Schwalben, nach Alaska, dort sterben, wo sie es schon einmal gewollt hätte. Das Video zeigt die Schwalbennester, die Schwalben, die Eierschalen und das Wasser. “Du hast es also geschafft”, sagt Fern lächelnd. Diese ganze Sequenz ist vielleicht die schönste des Films.
Über Frances McDormand gibt es derweil wohl nicht mehr viel zu sagen. Ich bin mir nicht sicher, ob es in diesem Showbusiness eine uneitlere, weniger selbstverliebte und intensiver spielende Schauspielerin gibt. Ungeschminkt, unfrisiert, praktisch auch unbekleidet: Frances McDormand lässt als Fern wirklich alles los, weil es überhaupt nicht wichtig ist. Fern wird ohne alles dies gemocht, geschätzt, geherzt, geliebt, umarmt, festgehalten, unterstützt. Der Film sendet auch in dieser Hinsicht eine wichtige Botschaft.
Wer auf ein großes, gefühliges, mitreißendes Ende hofft, sollte nicht zu viel hoffen. Es dürfte schon relativ schnell klar sein, dass es darum eben genau nicht geht. Wie bereits geschrieben: Alles, was wir tun, ist, Fern ein kleines Stück auf ihrer Reise als moderne Nomadin zu begleiten. Und irgendwann steigen wir eben wir aus. Aber Ferns Reise geht nicht zu Ende. Und so lassen wir sie am Ende wieder ziehen, wie sie uns am Anfang gezogen hat: in aller Stille, mit eindrücklichen Bildern der wilden Natur in Nevada.
Es ist ein Film, den wir weder von der Inszenierung noch vom Drehbuch her jemals so oder auch nur ansatzweise ähnlich im deutschen Film sehen würden. Keine Zweiohrküken, keine romantische Komödie, kein Hahahaha-Ende, wir gehen alle versöhnlich nach Hause, keine Frauen, die bitte zu funktionieren und am Herd zu stehen haben und bitte nicht nerven sollen, keine Gewalt, kein Krimi, kein Schmunzel, kein Chichi. Bis solche Filme in Deutschland produziert werden, hat die Klimakrise bereits das halbe Land weggespült. Und es ist so schade, denn fähige Drehbuchautoren und Schauspieler gibt es ausreichend. Nur ist die Zielgruppe vielleicht nicht groß genug.
Wer Fan der leisen Töne ist, wer keine spannende Geschichte braucht, die er so oder so ähnlich sowieso schon zig Mal gesehen hat, wer überrascht werden will davon, nicht überrascht zu werden, wer wissen will, wie es sich anfühlt, mittendrin und doch nicht dabei zu sein, der ist mit “Nomadland” auf der richtigen Spur. In dieser Hinsicht lohnt sich der Kinobesuch auf jeden Fall!