Meilensteine: Cagney & Lacey
Der ARD-Spartensender ONE wiederholt seit einiger Zeit die 80er-Jahre-Krimiserie “Cagney & Lacey”. Ende der 80er-Jahre und bis in die späten Neunziger zeigte Sat.1 die Sendung in deutscher Erstausstrahlung und in Wiederholungen. Dort habe ich Christine Cagney (Sharon Gless) und Mary Beth Lacey (Tyne Daly) kennengelernt. Ich war irgendetwas zwischen 12 und 14 Jahre alt und fand es toll, dass Frauen einfach so Polizistin UND gewollt unverheiratet UND gewollt kinderlos sein konnten. Welcher Meilenstein das auch für das amerikanische Fernsehen war, wurde mir erst jetzt klar, wo ich in die ONE-Wiederholungen geraten bin. Seit Mitte Januar zeichne ich die Folgen auf und schaue sie mir abends an. Manchmal sind es auch mehrere Folgen an einem Freitagabend. Erst jetzt allerdings eröffnen sich mir auch die Tragweite und Tiefsinnigkeit der Themen so richtig. Vermutlich musste ich dafür erwachsen werden. Die Serie ist erstaunlich gut gealtert, sie ist immer noch sehr erstaunlich gut anzusehen. Sie hat extrem gute Drehbücher, erzählt authentische Geschichten, die nicht oder nur sehr selten damit enden, dass ein Täter festgenommen wird.
Ganz oft sind nach der Festnahme noch viele Sendeminuten übrig, in denen es um das Leid der Hinterbliebenen, der Angehörigen des Täters, um die Folgen der Tat geht. Und das in einer Serie, die ihre Fälle episodisch erzählt und nur den Charakteren horizontalen Raum zur Entwicklung lässt – was übrigens für die 80er-Jahre auch schon ein Meilenstein war. 125 Folgen wurden in sieben Staffeln produziert. Tyne Daly bekam während der fünften Staffel ihr drittes Kind, was kurzerhand in die Serie eingebaut wurde. Sharon Gless als Cagney war bereits die dritte Cagney, die dann auch blieb. Und es ging eben nicht nur um den Job, aber eben auch nicht nur um die Partnerschaft oder Freundschaft. Ein Konflikt blieb oft einfach mal so stehen. Es wurde geschwiegen, dann wieder gestritten, dann wieder geschwiegen.
Es gibt mehrere Gründe, wieso ich jetzt so gerne zu “Cagney & Lacey” zurückkehre, wieso die Serie heute immer noch so gut anzusehen ist wie damals.
1.) Harvey Lacey
Die Fernsehproduzenten müssen verrückt gewesen sein. Geben sie Mary Beth Lacey doch einfach einen unfassbar zuverlässigen, loyalen, liebenden, unterstützenden Ehemann an die Seite, der seine Frau weder manipuliert, um sie für sich zu gewinnen, noch sie unterdrückt oder passiv-aggressiv wütend darüber ist, dass er “nur” Bauarbeiter ist. Stattdessen kümmert sich Harvey Lacey (John Karlen) um die beiden Söhne Harvey jr. und Michael, spielt mit ihnen Videospiele, träumt vom eigenen Haus, hilft der Gattin beim Kochen und beim Abwasch, ist immer an ihrer Seite, versteht ihre Bedürfnisse und sieht es keinesfalls als unmännlich an, hinter ihr zu stehen, weil sie nun mal als Polizistin viel arbeiten muss. Harvey Lacey ist vielleicht der erste männliche Hauptcharakter im amerikanischen Farbfernsehen überhaupt, der so angelegt worden ist. Bis heute sucht diese Figur ihresgleichen. Die Autoren verzichteten darauf, an dieser Stelle Konflikte herbeizuschreiben, die es in dieser Ehe schlichtweg nicht geben konnte. Harvey und Mary Beth Lacey stritten, schrien, weinten, aber sie standen immer Seite an Seite. Und trotzdem waren diese Szenen eben alles andere als langweilig und sind meines Erachtens heute eine lehrbuchhafte Erzählung darüber, wie eine Ehe gelingen kann.
2.) Die Fälle
Ich hatte doch einige Aha-Erlebnisse beim Schauen. Ich konnte mich tatsächlich bislang nicht an eine einzige Folge erinnern. Dafür war es doch zu lange her. Dennoch wusste ich noch, dass Lacey gegen Ende der Serie noch ein weiteres Kind bekommt. Die Fälle sind mir allerdings komplett neu. Jeden Tag sitze ich wieder staunend vor der Folge und freue mich darüber, dass die Autoren so oft tun, was ich oben andeutete. Der Fall endet vermeintlich mit der Festnahme eines Verdächtigen, mit der Aufklärung. Doch dann geht es erst richtig los. In einer Folge erschießt Cagney in Notwehr einen Jugendlichen, der im Drogenrausch und nicht mehr bei sich war. Nachdem der Fall rechtlich geklärt worden war, blieben doch noch gute 20 Minuten übrig. Ich fragte mich, was jetzt geschehen mochte. Doch es gab eben noch genug anderes zu klären: das Moralische, das Emotionale, das Zwischenmenschliche. Cagney kämpft mit sich, versucht, mit der Mutter des Toten ins Gespräch zu kommen, wird als wild um sich schießende Polizistin betitelt. Die Folgen schaffen fließende Übergänge zwischen verschiedensten Themen. Das wirkt heute so erfrischend und kurzweilig zwischen all den horizontal erzählten Serien, die sich mehrere Episoden lang Zeit nehmen, um in die Seele der Protagonisten zu gucken. Es wirkt nämlich keineswegs gehetzt, sondern schlüssig. Oft bleibe ich nachdenklich zurück.
3.) Die Themen
In einer Folge wird Cagney sexuell genötigt: Geht sie nicht mit ihrem Chef ins Bett, will der ihr die Karriere verbauen. Sie wehrt ihn ab und zeigt den Mann an. Das fällt ihr fast auf die Füße, denn nachdem man sie vergeblich gebeten hat, den Fall bitte zu vergessen und die Anzeige zurückzuziehen, unterstellt der Ex-Kollege ihr eine Teilschuld: Sie habe sich schließlich an ihn herangemacht und eindeutige Signale gesendet. Das Thema der sexuellen Nötigung ist dann auch nicht mit einer Folge abgetan, sondern wird in zwei oder Episoden wieder aufgenommen und zu Ende erzählt. Das ist kluger Stoff, denke ich, der heute aktueller denn je ist, wo es immer noch Männer gibt (und Frauen!), die sich sicher sind, dass die vergewaltigte Frau im Minirock eben auch ein bisschen selbst schuld sei, weil sie ja Minirock getragen habe.
In einem weiteren Strang erkrankt Lacey an Brustkrebs (80er-Jahre, Ladies and Gents, 80er-Jahre-Sendung!!!) und schafft es nicht, sich ihrem Mann gegenüber zu öffnen. Sie kann es sich selbst gegenüber nicht einmal eingestehen. Auch Cagney weiß von nichts. Erst durch die Hintertür findet Cagney einen Zugang und überredet Lacey zum Arztbesuch. Und dann geht es ganz schnell um Amputation, Implantate, Chemotherapien, Bestrahlung, um eine WEIBLICHE BRUST. In einer amerikanischen Krimi-Serie der 80er-Jahre. Das ist so verblüffend wie kaum zu glauben.
4.) Die Enden
Die Episoden enden gefühlt mitten im Dialog. Das Bild friert ein, der Name des Executive Producers wird per Bauchbinde eingeblendet. Aber der Ton läuft noch weiter. Das macht mit dem Zuschauer so viel! Denn wir hängen noch in der Szene, die vorbei ist, die aber nur visuell vorbei ist. Wir hören immer noch die Hintergrundgeräusche, die Autos auf der Straße, das Tippen der Schreibmaschinen, das Gerede der Kollegen. Das mag irrsinnig banal klingen, aber das schafft extreme Bindung zum Produkt. Inzwischen ertappe ich mich, dass ich schon darauf warte, wann die Szene denn jetzt zu Ende sein könnte. Nach welchem Wort Schluss ist. Für manche mag es so wirken, als sei das Drehbuch hinten raus zu lang gewesen, aber es ist ein wunderbar funktionierender Kniff. Großartig!
5.) Die Frauen
Cagney & Lacey war eine Vorreiter-Serie für alle selbstbestimmten Mädchen und Frauen. Was Dana Scully, Kathryn Janeway und viele andere in den 90er-Jahren für meine Generation waren, müssen diese beiden Polizistinnen in den 80er-Jahren gewesen sein. Allein leben und Vollzeit arbeiten? Gewollt? Das geht! Verheiratet mit zwei Kindern und trotzdem nachts ein Haus observieren, weil der Gatte sich um die Kinder kümmert? Das geht! Dem Chef verbal Paroli bieten, weil der Unsinn redet? Das geht! Sich von anzüglichen Sprüchen, eklig schleimigen Männern und widerlichen Angeboten nicht beeindrucken lassen und sich zur Wehr setzen? Das geht!
Und wie eine gute Folge Cagney und Lacey endet dieser Text mitten im Dialog.