Die X-Akten sind geschlossen – aber sicher nicht für immer
Kirsten: Da stand auf einmal die Idee im Raum, nach Abschluss der sechs Episoden der zehnten “Akte X”-Staffel noch ein paar Zeilen zu schreiben. Gesamteindruck festhalten, noch mal rekapitulieren, was da eigentlich passiert ist, einordnen und ein Fazit ziehen.
Es waren fünf beeindruckende Wochen für alle X-Akten-Fans. Einerseits, weil sie so unfassbar schnell vorbei waren, andererseits auch deshalb, weil diese in fünf Wochen gezeigten sechs Episoden so viel beinhalteten, dass es einem hier und den Atem verschlug. Und dann war da diese Qualitätskurve. Müsste ich eine Linie in ein Koordinatensystem einzeichnen, um zu beschreiben, wie ich den Verlauf dieser Folgen wahrgenommen und empfunden habe, es wäre eine steile Angelegenheit mit einer krassen Klippe am Ende.
Folge eins war die schwächste – daran ändert sich für mich auch nach der letzten Folge nichts. Im Schnelldurchlauf mal eben erzählen, was man damals in neun Jahren so ausgebreitet hat, dass selbst die Fans nicht mehr mitkamen – das funktioniert nicht gut. Und es ist auch Chris Carter nicht gelungen. Spöttisch kritisierte ich während der vergangenen Wochen, dass Carter doch bitte endlich den Stift weglegen möchte. Es reicht doch, dass er die beiden genialsten Charaktere der TV-Geschichte erschaffen hat. Er muss sie nicht auch noch zunichte schreiben. Das haben sie nicht verdient. Die erste Folge wollte zu viel. Plötzlich tauchte am Horizont eine ganz neue Verschwörung auf, die mit der damaligen gar nichts mehr zu tun hat. Aha-Momente, Überraschungen. Zu viel des Guten. Aber immerhin blieb dieser schale Beigeschmack der Hoffnung, dass ja in der letzten Episode alles aufgeklärt würde.
Denkste!
Heute Morgen also die fast erste Tat des Tages: Amazon auf, “X Files”-Folge kaufen, die angucken – damit man auch in den sozialen Netzwerken endlich wieder mitreden kann. Nach knappen 44 Minuten blieben folgende Gedanken: “Das machen die jetzt nicht wirklich?” “Sitzt William in dem Ding?” “Warum zur Hölle bekommen wir immer nur noch mehr Fragen als Antworten?” “Will Chris Carter uns verarschen?” “Wann kommt Staffel 11?” Und: “Irgendetwas stimmt hier nicht.”
Das Gefühl, das irgendetwas nicht stimmte, verfestigte sich in den wenigen Stunden nach dem Gucken. Irgendetwas war faul und die Puzzleteile dieses stinkenden, faulenden Etwas setzten sich langsam zusammen.
Da wäre einerseits Fox Mulder. Der war mit dem schwarzen Virus infiziert, ihm war Gehirngewebe (sic!!) durch seinen leiblichen Vater eingesetzt und schließlich war er von Alien entführt worden – wie kann es sein, dass dieser Mann eine Katastrophe dieses Ausmaßes nicht überlebt? Natürlich, die Dramaturgie. Man braucht Stoff für Staffel 11, man muss William in den Handlungsbogen einspannen – und das alles, ohne auch nur eine einzige Frage zu beantworten.
Da wäre außerdem Monica Reyes. Es gibt sehr viele Fans, die Staffel neun nie gesehen haben. Selbst schuld, kann ich nur sagen. In dieser Staffel neun gibt es einige der besten Folgen der Serie. Monica Reyes war damals die Ermittlerin (gemeinsam mit John Doggett/Robert Patrick). Monica Reyes stand Dana Scully in ihren dunkelsten Stunden bei, hat ihren Hintern riskiert, um Mulder und Scully zu retten – und jetzt, plötzlich, soll sie, ganz eigennützig und egoistisch, alles aufgegeben und betrogen haben, um dem Krebskandidaten 15 Jahre lang die Zigaretten an die künstliche Luftröhre zu halten? Leute – im Leben nicht. Ich habe selten erlebt, wie ein Schöpfer es schafft, soweit mit einem seiner eigenen Charakter Out Of Character zu gehen. Es ergibt keinen Sinn. Sie hätte es nicht gemacht. Sie hätte gekämpft. Mit Doggett an ihrer Seite. Zumindest ist das meine Vorstellung.
Da wäre weiterhin diese seltsam konstruierte Verschwörung. Tad O’Malley taucht aus dem Nichts wieder auf und plötzlich werden alle Menschen krank? So ist es natürlich nicht angelegt, aber so ist es zu verstehen. Es ist doch sehr weit hergeholt, dass eine Katastrophe dieses Umfangs ausgelöst wird durch einen Verschwörungstheoretiker, der in seiner Sendung über Chemtrails fabuliert. Also bitte!
Viele Fragen werden gestellt, wenige werden beantwortet. Alles bleibt nebulös und endet dann auch noch mit einem spektakulären Cliffhanger.
Nein, diese letzte Folge konnte nicht aufhalten, was die erste bereits ins Rollen gebracht hatte. Dieses Gefühl, dass Chris Carter gar nicht mehr so richtig weiß, was er eigentlich erzählen wollte.
Was ist aus den Supersoldiers und den Rebellen geworden? Welche Rollen spielen sie jetzt? Zu welchem Zweck gab es sie eigentlich – außer aus dem Grund, Agent Doggett Arbeit zu geben.
Das Highlight dieser Staffel bleiben am Ende die Monster-of-the-week-Episoden – weil sie es einerseits schaffen, uns einen Einblick in das Leben von Mulder und Scully zu geben. Und weil sie andererseits einfach – wie auch früher schon – schöne, spannende und interessante und dann auch noch lustige und am Ende aber immer zum Nachdenken anregende Geschichten erzählen.
Zu meinen persönlichen Höhepunkten gehört “Babylon”, weil es so brandaktuell ist. Auch hinter “Home Again” steht eine wunderbare Geschichte, obwohl am Ende zu viele Fragen offenbleiben.
Und das ist das größte Problem dieser Staffel: Sie will zu viel. Wie bereits eingangs erwähnt, ist es einfach unmöglich, all das, was eine so starke Serie über neun Jahre ausgemacht hat, in sechs Folgen wiederzubeleben und gleichzeitig sterben zu lassen, um sie dann ganz neu zu erzählen. Das funktioniert nicht. Es ist schade, dass es so ist. So bleibt nur die Hoffnung, dass Chris Carter das ebenfalls begriffen hat und sich für eine Staffel elf überlegt, eventuell doch nur eine Geschichte über sechs Folgen zu erzählen. Immerhin schreiben wir das Jahr 2016 und dieses Jahrzehnt wird im Fernsehen von Serien geprägt, die horizontal und konstant erzählen. Mich würde brennend interessieren, wie das bei “Akte X” aussehen könnte.
Immerhin ist das die beste Serie der Welt mit den besten Protagonisten der Welt – es muss also möglich sein, vieles noch viel besser zu machen.
Markus: “Mulder, it’s me. Are you ready?” Mit diesem Tweet von Gillian Anderson fing für mich alles an – sie hatten mich wieder. Ab da gab es kein Zurück mehr, ich wollte einfach gut finden, was als zehnte Staffel auf uns zukam. Und es las sich ja auch einfach zu perfekt: Alle wichtigen Leute waren mit an Bord, von Anderson und David Duchovny über Mitch Pileggi und William B. Davis bis zu Mark Snow und Glen Morgan. Leider auch Chris Carter (dazu kommen wir noch). Die Lone Gunmen wurden während der Dreharbeiten gesichtet. Annabeth Gish hatte zugesagt. Und einzig die vergleichsweise geringe Zahl der Folgen stimmte mich nachdenklich. Nur sechs? Ernsthaft? Ihr lasst uns mal kurz die lange vermisste Atmosphäre schnuppern und nehmt es uns dann wieder weg?
Und das war dann auch das große Problem, das ich mit der Fortsetzung hatte: Sie war einfach zu kurz. In einem halben Dutzend Folgen, jede gerade mal eine knappe Dreiviertelstunde lang, kann man keinen komplexen Handlungsbogen erzählen. Aber genau das ist es, was “The X-Files” immer ausgemacht hat, was diese Serie zu einem Vorreiter moderner Fernsehunterhaltung werden ließ. Die Produzenten setzten konsequenterweise auf klassische “Monster of the week”-Geschichten, eingeklammert in eine Alien-Mythologie-Doppelfolge. Blieben faktisch vier Teile, um den alten Fans alles zu bieten, was sie erhofften, und neue Anhänger zu gewinnen. Und so bekamen wir die unheimlichen Kinder (“Founder’s Mutation”), den schrägen Humor (“Mulder and Scully meet the Were-Monster”), den monströsen Serienkiller (“Home Again”) und das Special für Kenner (“Babylon”). Dazu jede Menge Anspielungen auf alte Handlungsbögen, durchaus interessante neue Charaktere, ikonische Szenen und Sätze, ein wenig Modernität (Internet! Chemtrails!) sowie eine Spur weiterführende Story in besagter Doppelfolge.
Klar – zu kritisieren gibt es einiges. Zu gerafft, geradezu gehetzt erschien manche Story. Logiklöcher brachen auf, wenn sich der erste Nebel der Begeisterung legte. Und Chris Carter ist und bleibt der George Lucas der X-Akten – er hat allen Respekt der Welt dafür verdient, uns diese Figuren und ihre Geschichte geschenkt zu haben, aber nehmt ihm bitte so schnell wie möglich sein Baby weg. Der Mann hat seinen eigenen Mythos nicht verstanden, und seine unausgegorene Klammerfolge “My Struggle” bewies das einmal mehr.
Apropos Baby: Ich war nie ein Fan der Idee, dass Mulder und Scully Eltern wurden. Auch die Autoren schienen damit seinerzeit zu hadern, denn William, das gemeinsame Kind der FBI-Agenten, verschwand so schnell und unvermittelt, wie er das Licht der (Serien-)Welt erblickte. Nun müssen die beiden die verzweifelten Rabeneltern geben, und aus dem verlorenen Sohn wird so etwas wie das Bernsteinzimmer oder das Seeungeheuer von Loch Ness: Man spricht darüber, aber man bekommt es nie zu Gesicht, und was genau sich dahinter verbirgt, weiß ohnehin niemand so recht.
Damit sind wir erstaunlicherweise bei der großen Stärke der neuen Staffel: Gillian Anderson und David Duchovny. Keine Ahnung, wer das Duo damals gecastet hat, aber er hatte entweder verdammt viel Glück oder versteht was von seinem Job. Es gibt schlicht und ergreifend keine zweite Fernsehserie, streng genommen auch keinen Genrefilm mit einer derartigen Chemie zwischen den Hauptdarstellern. Sie sind das ultimative Protagonistenpaar, es knistert und zischt, es harmoniert und kracht zwischen ihnen, dass allein ihre großartigen Dialoge für alles entschädigen, was zu bekritteln ist. Hinzu kommt, dass beide als Schauspieler gewachsen sind. Sie haben ihre eigene Geschichte, miteinander und alleine, und das macht das Wiedersehen (zwischen ihnen, aber vor allem mit ihnen) so unglaublich sehenswert. Das ist eine emotionale Wertung, keine sachliche, aber nochmal ganz deutlich: Mit Anderson und Duchovny wird “The X-Files” immer und zu jeder Zeit punkten können.
Insgesamt fühlte ich mich überaus gut unterhalten. Langweilig wurde es nie, wenngleich ich mich an das Mehr an Spezialeffekten und das Weniger an konspirativem Flüstern im Schatten erst gewöhnen musste. Inzwischen ist es einfach leichter und günstiger, Raumschiffe und Ungeheuer zu zeigen – also taten die Produzenten das vergleichsweise ausgiebig. Die Wahrheit ist irgendwo da draußen. Und diesmal kriegten wir sie auch zu sehen.
Die Stimmung von Staffel 10 entsprach exakt jener der legendären Folgen der 90er Jahre und der beiden weniger legendären Kinofilme. Das muss man erstmal hinkriegen, allein dafür alle Achtung. Besonders faszinierend: “Akte X” funktioniert heute so gut wie damals. Die Urväter halten im Rennen um die beste Fernsehserie nicht nur mit, sie erobern an guten Tagen sogar die Spitzenposition. Und es gab viele gute Tage während der vergangenen fünf Wochen.
Jetzt kann ich es kaum erwarten, dass die X-Akten ein weiteres Mal geöffnet werden. Die Quoten und die meisten Kritikerstimmen sprechen dafür, dass das irgendwann geschieht. Hoffentlich nicht erst in 14 Jahren, denn unsere beiden Helden fehlen mir jetzt schon. I’m ready.
Ein Gedanke zu „Die X-Akten sind geschlossen – aber sicher nicht für immer“
Die letzte Folge war – meiner Meinung nach – ziemlich fürchterlich, wenn man mal ganz ehrlich ist. Wieviel gemeinsame “Screentime” hatten Duchovny und Anderson? Drei Minuten? Und in der Folge davor? Zehn? Das ist sinnlose, fürchterliche, unverantwortliche Verschwendung. Und Mitch Pileggi? Ebenso. Ich freu mich, wenn die X-Akten demnächst wieder geöffnet werden, aber dann bitte “anders”.
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