Viermal Netflix: Das Leben, der Tod, die Zeit danach – und auf Anfang
In den vergangenen Wochen punktete Netflix mit starken Eigenproduktionen (besser: selbst eingekauften Produktionen), die unterschiedlicher nicht sein könnten, aber eines gemeinsam haben: Qualität. Zeit also für einen genauen Blick auf vier davon, der durchaus als Binge-Tipp verstanden werden darf – auch und gerade für jene, die wenig Zeit zum Gucken haben.
Russian Doll: Ihren 36. Geburtstag hatte sich Nadja (Natasha Lyonne) etwas anders vorgestellt. Alk und Koks gehören zwar durchaus zum Alltag der leicht fertigen Programmiererin. Und dass ihr Lebenswandel sie eventuell mal das Leben kosten könnte, ist auch nicht allzu überraschend. Aber die schlagfertige New Yorkerin hätte nicht damit gerechnet, nach ihrem Tod eine weitere Chance zu bekommen. Und noch eine. Und noch eine… Immer wieder erlebt sie ihren Geburts- und Todestag; sie ist gefangen in einer Zeitschleife, einer düsteren Version von “Und täglich grüßt das Murmeltier”. Irgendwann versteht sie, dass Chancen genutzt werden wollen. Und erkennt, dass sie im Ringen um ihr Leben nicht allein ist.
Dies ist eine One-Woman-Show: Natasha Lyonne hat sich nicht nur die wunderbar absurde Geschichte ausgedacht und die acht Serienfolgen produziert, sie steht als Hauptdarstellerin natürlich auch im Mittelpunkt des Geschehens. Man fragt sich, wie viel von der Schauspielerin tatsächlich in der Figur steckt (der ähnliche Vorname deutet das möglicherweise an), zumal diese sehr an Lyonnes Charakter Nicky Nichols in “Orange Is The New Black” erinnert. Ihre Nadja ist nicht auf den Kopf gefallen – auf den Mund schon gar nicht -, hat einen kumpelhaften Charme und setzt sich gegen ihre Umwelt mit Zynismus und schwarzem Humor zur Wehr. Dabei zündet sie die Kerze an beiden Enden an, wobei sie im Verlauf der Handlung deutlich reift und ihr Blick auf das Leben optimistischer wird.
Die erfreulich straff inszenierte Serie ist dank der überschaubaren Zahl an Episoden extrem kurzweilig und trotz mitunter pfeilschneller und punktgenauer Dialoge nie geschwätzig. Allein das hebt sie schon wohltuend ab von der inzwischen leicht miefigen Masse an gequält auf Serienlänge gezogenen Storys, deren Drehbücher nicht selten eher für eine Kurzgeschichte gereicht hätten. Zudem bringt Lyonne genug Talent und Charisma mit, um sich für weitere Rollen zu empfehlen. Die Frau kann was – beim nächsten Mal darf sie gerne zeigen, dass sie auch andere Rollentypen beherrscht.
“Russian Doll” (übersetzt mit “Matrjoschka”) ist eine mitreißende Geschichte um eine verlorene Seele und ihren Kampf um Hoffnung. Und wem das zu esoterisch klingt, der sei versichert: Keine Sorge – sie ist auch saulustig und (man kann es nicht oft genug betonen) zu keiner Sekunde langweilig. Ganz wichtig: Die Serie braucht trotz des Erfolgs bei Kritikern und Zuschauern keine Fortsetzung. Und das ist Lob und Bitte zugleich.
Kingdom: Korea im Mittelalter. Der König ist schwer krank und hat sich schon lange nicht mehr in der Öffentlichkeit sehen lassen. Im einfachen Volk, aber auch im von Intrigen gespalteten Adel brodeln die Gerüchte: Lebt der Monarch etwa nicht mehr? Der Streit um seine Nachfolge könnte Krieg fürs das Königreich bedeuten. Zur gleichen Zeit mehren sich Geschichten um unheimliche Vorfälle: Angeblich bedrohen seltsame Wesen das Land. Es ist sogar die Rede davon, dass die Toten zurückgekehrt seien, um sich an den Lebenden zu rächen. Kronprinz Lee Chang (Ju Ji-hoon) macht sich auf, um beiden Ereignissen auf die Spur zu kommen. Rasch stellt er fest, dass sie zusammenhängen. Und dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt, als selbst die hochentwickelte koreanische Wissenschaft sich träumen lässt. Nach und nach eskaliert die Situation, und es geht nicht mehr nur um die Zukunft des Reiches, sondern vielleicht sogar um die der ganzen Welt.
Horrorfilme aus Südkorea – sowas gibt es? Allerdings – und es kann sich sehen lassen! “Train To Busan” (2016) ist einer besten Zombiefilme aller Zeiten, für viele sogar der beste. Und auch in “Kingdom” sind die Antagonisten wandelnde Leichen, allerdings mit einer neuartigen Mythologie. Diese Zombies gehen nur bei Dunkelheit auf die Jagd, dann allerdings so schnell und rasend, wie man es aus neueren Filmen des Genres gewohnt ist. Die sechs Folgen der Serie gewinnen ebenfalls rasch an Schwung und so schafft es das fernöstliche Schauermärchen souverän bis zur Ziellinie. Angesichts der üppigen Ausstattung und des Schwelgens in mittelalterlichen Riten und Gepflogenheiten ist das gar nicht ohne Weiteres zu erwarten: Manch ausführlich erzähltes Ränkelspiel bremst die fantastischen Elemente ungewohnt aus, was dem Ganzen aber letztlich eine exotische Atmosphäre verleiht. Allzu blutig wird es übrigens nicht: “Kingdom” setzt eher auf gepflegten Grusel. Das allerdings mit Bravour.
The Umbrella Academy: Am 1. Oktober 1989 werden unter seltsamen Umständen 43 Kinder geboren. Seltsam deshalb, weil ihre Mütter bis zur Geburt nicht schwanger waren – und weil die lieben Kleinen über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen. Der exzentrische Milliardär Reginald Hargreeves (Colm Feore) adoptiert sieben von ihnen, um sie zu Superhelden auszubilden. Da er selbst einiges zu verbergen hat, erzieht er seine “Neuerwerbungen” ausgesprochen kühl, sodass sie letztlich in einer reichlich kaputten Form von Familie aufwachsen. Dementsprechend kompliziert ist ihr Verhältnis untereinander, und als sie nach dem Tod ihres Ziehvaters als Erwachsene aufeinander treffen, ist das Wiedersehen alles andere als herzlich. Das gemeinsame Erbe schweißt die bunte Truppe jedoch zusammen – und mehr noch ein neues Problem, das es zu lösen gilt: Einer von ihnen, der zynische Nummer 5 (Aidan Gallagher), hat die Zukunft bereist und festgestellt, dass die Apokalypse naht. Und so ist die einzige Chance der Welt eine Gruppe von Ausgestoßenen mit reichlich Problemen.
Marvel sei Dank: Inzwischen traut man sich sogar im Fernsehen an vergleichsweise epische Heldengeschichten. Der zugrunde liegende Comic ist eine durchaus wüste, vertrackte und bombastische Angelegenheit, also war es spannend, zu sehen, ob er mit vergleichsweise geringem Budget umgesetzt werden konnte. Das Ergebnis ist optisch zwiespältig: Zwar ist beispielsweise Schimpanse Pogo eine beeindruckende Computeranimation, manche Actionszene leidet allerdings darunter, dass Explosionen oder Tentakel nicht ganz überzeugen. Allein: Darum geht’s hier nicht.
Dies ist eines der etwas anderen Superheldenabenteuer, angesiedelt irgendwo zwischen den Watch- und den X-Men mit einem Hauch “Doom Patrol” und etwas “Misfits”. Es geht tatsächlich in erster Linie um die Beziehungen der Charaktere untereinander, und daher sind diese so skurril wie ausgearbeitet. Allen voran ist besagter Nummer 5 zu erwähnen: Durch seine Zeitreisen ist er im Gegensatz zu seinen Geschwistern nicht gealtert, aber geistig der Älteste – ein verbitterter Veteran, gefangen im Körper eines Kindes. Und der einzige ohne tatsächlichen Namen. Ebenfalls erwähnenswert ist Vanya alias Nummer 7 (Ellen Page in ihrer dritten Superheldenrolle). Sie ist zwar eine begabte Violinistin, scheint aber nicht über besondere Kräfte zu verfügen und wurde als Kind weggesperrt – das weiße Schaf in einer Familie voller schwarzer.
“The Umbrella Academy” ist sorgfältig produziert, hat teils tolle Schauwerte, eine beeindruckende Kamera und clever ausgewählte Songs als Soundtrack. Das macht die zehn Folgen sehr unterhaltsam, allerdings muss man sich auf die schräge Geschichte einlassen und ein Faible für ungewöhnliche Serien mitbringen. Von Spezialisten für Spezialisten, wenn letztere in der richtigen Stimmung sind.
After Life: Als seine Frau Lisa (Kerry Godliman) an Krebs stirbt, ist Lokaljournalist Tony Johnson (Ricky Gervais) am Ende. Verbitterung und Verzweiflung treiben ihn sogar zu Selbstmordgedanken. Bis ihm auffällt, dass Hund “Brandy” ohne ihn sicher verhungern würde. Angetrieben von diesem einzigen Grund zu leben lässt er jedoch seiner Veranlagung zu Zynismus und Aggression freien Lauf: Wer als Plan B den Tod im Hinterkopf hat, hat nichts zu verlieren. Fortan spricht er offen aus, was er denkt – sehr offen. Er kommentiert die Missstände in seiner Umgebung, das Verhalten aller Menschen, den Lauf der Dinge. Und stößt dabei auch jene vor den Kopf, die mit ihm leiden, darunter Schwager und Chefredakteur Matt (Tom Basden), Lisas Bruder. Tony lernt aber auch Menschen kennen, deren Leben auf ähnliche Weise gescheitert ist wie seines. Und gewinnt dadurch neue Kraft.
Wow. Ich verehre Ricky Gervais für fast alles, was er macht – besonders für “Extras” und “David Brent: Life On The Road”. Einerseits steckt sein heller Kopf voller dunkler Gedanken. Andererseits haben seine Filme und Serien immer ein riesiges Herz für die Verlierer, die er oft selbst porträtiert. Und von denen viel in jedem von uns steckt. Tony in “After Life” tut das, was wir alle gern mal machen würden: Er lebt ohne Rücksicht und hält allen, die ihm im Weg stehen, gnadenlos den Spiegel vor. Man mag es kaum glauben: Dabei zuzusehen, ist unfassbar komisch und zugleich ebenso unglaublich traurig. Die Geschichte eines Mannes ohne Hoffnung, der für die Wahrheit einsteht, ist in sechs Folgen packend erzählt. Und man ertappt sich nicht selten dabei, wie vor allem die ruhigen Momente einen zum Grübeln bringen. Niemand ist eine Insel – wir schauen Tony dabei zu, wie er zu dieser Erkenntnis kommt. Und hoffen, dass wir selbst sie im Alltag nicht vergessen. Diese Serie kann Leben retten. Ohne Witz.